Hallo Forum,
seit dem 01.11.2015 bin ich nun nach 46 Jahren Eisenbahn im Ruhestand. Und ich habe mal begonnen, neben vielen Dias und Negativfilmen auch alle von mir aufbewahrten persönlichen Dokumente aus meinem langjährigen Berufsleben zu digitalisieren. Dabei geriet mir auch eine Belobigung zur Verhinderung eines Eisenbahnunglücks von 1977 in die Hände. Ja, früher gab es mal Belobigungen bei der Deutschen Reichsbahn für besondere Leistungen und Einsatzbereitschaft. Anhand dieser Belobigung und Notizen im von mir aufbewahrten Kalender von 1977 kommt die Erinnerung im Zusammenhang mit dem schweren Eisenbahnunglück vor wenigen Tagen zurück. Ich sehe das alles von 1977 genau wie damals vor meinem geistigen Auge.
Sachverhalt - siehe auch Skizze: Bei den Stellwerken handelte es sich um mechanische Stellwerke der Bauform Einheit mit Lichtsignalen. Ich war 24 Jahre und bereits mehrere Jahre Fahrdienstleiter. Natürlich gab es keinen Zugfunk, kein PZB, keine automatische Gleisfreimeldung. Dg 89704 war von der Dispatcherleitung abgenommen und sollte nun nach mehreren Überholungen Ausfahrt in Richtung Schwerin - (Bad Kleinen) bekommen. Nach Abgabe der Befehlsabgabe von mir für die Ausfahrt an das Wärterstellwerk W2 meldete mir der Stellwerkswärter, dass das Befehlsempfangsfeld nicht entblockt wird. Das habe ich dann 2-mal wiederholt - ohne Erfolg d.h. Bahnhofsblockstörung. Dafür gab es festgelegte Abläufe und Vorschriften. Zunächst musste ich Rückmelden für das Streckengleis Holthusen - Görries einführen und mir die fernmündliche Rückmeldung des letzten Zuges einholen, weil mit dieser Bahnhofsblockstörung auch der Streckenblock gestört wurde. Das war alles im Zugmeldebuch, das wie eine Urkunde zu behandeln war, zu dokumentieren. Parallel dazu beauftragte ich den Stellwerkswärter, den Fahrweg aus Gleis 1 in das Streckengleis Holthusen - Görries ersatzweise zu sichern und mir eine Zugfahrfahrtensicherungsmeldung zu geben. Der Wortlaut war gemäß der Fahrdienstvorschrift (DV 408) genau vorgeschrieben und durfte nicht verändert werden. Ich hatte dazu bereits mal eine Auseinandersetzung mit dem 20 Jahre älteren Stellwerkswärter und angedroht, das Ersatzsignal Zs 1 nicht freizugeben, wenn ich nicht eine exakte Zugfahrtensicherungsmeldung bekomme ggf. hat er diese Meldung aus der DV 408 abzulesen, was er dann auch mit Widerwillen tat. Jedenfalls stellte der Stellwerkswärter die Weichen, sicherte den Fahrweg (ungesichert hieß es Fahrweg und nicht Fahrstraße) und gab mir die geforderte Zugfahrfahrtensicherungsmeldung „Fahrweg für Zug 89704 aus Gleis 1 nach Görries gesichert.“ Damit konnte ich auch das Zs 1 freigeben, was ich auch tat. Eine eigenmächtige Signalbedienung ist auf einem Wärterstellwerk ohne Befehl/Auftrag des Fahrdienstleiters technisch nicht möglich. Dg 89704 setzte sich um 17:14 in Bewegung und ich trug die Abfahrtzeit in das Zugmeldebuch ein. Plötzlich schrillte das Telefon und der Stellwerkswärter rief mit aufgelöster und tränenerstickter Stimme „Norbert, Norbert, 89704 fährt in das linke Streckengleis!“ Kaum ausgesprochen fiel mein Blick auf das Spiegelfeld für das Endfeld der Strecke Görries - Holthusen. Es sprang gerade von gelb auf rot d.h. Görries hatte den vollbesetzten Berufszug P 7374 vorgeblockt d.h. dieser Zug war gerade in das Streckengleis eingefahren, in das der Dg 89704 fehlgeleitet worden war. Beide Züge befanden sich auf Kollisionskurs. Was war passiert? Der Stellwerkswärter hatte den Fahrweg eben nicht korrekt eingestellt und gesichert, weil er „vergessen“ hatte, die Weichen 27 und 28 umzustellen. Sowas kann man eigentlich nicht vergessen, weil man den Fahrstraßenhebel in eine Hilfsstellung bringen kann, um die Stellung der Weichen und Riegel zu überprüfen. Das wurde aber nicht getan.
Die einzige Möglichkeit beide Züge zu stoppen, war der damals noch besetzte Schrankenposten 101 auf halber Strecke. Also 3 mal 10 Kurbelumdrehungen auf dem Streckenfernsprecher (Gefahrensignal) und dem Ruf „Betriebsgefahr! Haltet Züge zurück!“. Ich brauchte davor und danach nie wieder ein Gefahrensignal auslösen. Die Schrankenwärterin rannte sofort hinaus und stoppte mit dem Kreissignal der Warnflagge den P 7374. Der Lokführer des Dg 89704 hatte inzwischen die Fehlleitung selbst bemerkt und gebremst. Dennoch standen sich Dg 89704 und P 7374 auf freier Strecke nur noch 500 m auseinander. Danach war dann aber was los, kann ich Euch sagen. Das alles aufzuschreiben, würde fast einen Roman abgeben.
Was will ich damit sagen? Der Schrei nach immer modernerer Technik bringt gar nichts, solange man sich bedingungslos auf Technik verlässt und das Personal im Störungsfall damit nicht richtig umgehen kann oder bewusst/unbewusst aushebelt. Ohne über diese heutige moderne Technik zu verfügen, konnte ich ein schweres Unglück verhindern, weil ich dafür ausgebildet wurde, nicht kopflos zu reagieren, sondern in außergewöhnlichen Situationen besonnen, sachlich, schnell und richtig zu reagieren.
Ich habe noch eine Vielzahl von Dokumenten zu liegen, die mich an meine Zeit als Eisenbahner, nämlich u.a. auch die 12 Jahre als Fahrdienstleiter auf Stellwerken der Deutschen Reichsbahn bis zum Abschluss meines Fernstudiums erinnern. Auf meine Tätigkeit war ich trotz schlechter Bezahlung immer stolz gewesen, auch weil es eine große Verantwortung war, die Außenstehende in der Regel nicht beurteilen konnten/können. Wer weiß denn schon, wie es auf einem Stellwerk wirklich zugeht? Meine Gedanken sind derzeit auch beim Fahrdienstdienstleiter von Bad Aibling. Ich weiß nicht, was dort vor sich ging und werde mich hüten, etwas dazu zu sagen bevor nicht alle Fakten bekannt sind.
Aber ich mache mir schon Gedanken, wie man heutzutage bereits nach wenigen Monaten Triebfahrzeugführer und Fahrdienstleiter werden kann, wozu wir mehrere Jahre benötigten. Ich selbst musst 1972 erst ein halbes Jahr als Stellwerkswärter gearbeitet haben, bevor ich überhaupt zum 6-monatigen Lehrgang zum Fahrdienstleiter zugelassen wurde …
Viele Grüße
Norbert