Tod eines Sicherungspostens durch D 732

  • Beim Durchblättern meiner Notizen lese ich eine weitere kleine Bemerkung und schon ist die Erinnerung wieder da.


    Heute ist Sonntag der 21.02.1982. Ich habe um 05:50 meinen Dienst als Fahrdienstleiter auf Stellwerk B1 Bahnhof Holthusen übernommen. Der Dienst dauert an den Wochenenden immer 12 Stunden, geht also bis 18:00. Bereits der Samstag war ein anstrengender Tag durch Bauarbeiten gewesen. Und die Bauarbeiten gehen heute an den Weichen 3, 4, 5, 6, 10, 11, 14 und am Gleis 2 weiter d.h. ab 06:15 habe ich die Gleise 1 und 2 gesperrt wegen dieser Bauarbeiten und Besetzung der Gleise mit Arbeitszug und Stopfmaschine. Für die Zugfahrten in alle bzw. aus allen 3 Richtungen (Hagenow Land, Ludwigslust, Schwerin) stehen mir nur die Gleise 3 und 4 zur Verfügung. Es ist höchte Konzentration gefragt, um Bauarbeiten und Zugfahrten sicher durchzuführen. Planmäßig verkehrten in einer 12-Stundenschicht 96 Züge. Ich hatte also ununterbrochen zu tun: Zugmeldungen annehmen und absetzen, mit den Dispatcherleitungen Wittenberge und Güstrw, die Reihenfolge der Züge abstimmen, Fahrstraßen einstellen (ca. 15 Hebelbewegungen für einen Fahrstraßenwechsel nach Einfahrt von Hagenow Land und sofortiger anschließender Ausfahrt nach Ludwigslust), Bahnhof- und Streckenblock bedienen, Absprachen mit den Leuten vom Bau, Rangieren des Arbeitszuges und der Stopfmaschine. Es war kaum Zeit, mal in Ruhe eine Zigarette zu rauchen geschweige in Ruhe etwas zu essen. In den Tagdiensten gab es bei mir nur Eintopf, weil ich da nicht mit Messer und Gabel hantieren musste, sondern während des Telefonierens nur löffeln brauchte. Oft genug wurde das Essen dennoch kalt. Es ging auf 14:00 zu und ich ersehnte langsam den wohlverdienten Feierabend. Gegen 14:11 hatte ich folgende wie auf der Skizze zu ersehende betriebliche Situation. Am Asig A aus Richtung Hagenow wartete Dg 54866 die Durchfahrt des D 732 ab, weil ich im Bahnhof keinen Platz hatte. Im Gleis 4 stand Gag 57462, der auch die Überholung durch D 732 abwarten musste. Vor der Einfahrt von Schwerin am Asig Q stand Ce 46871, der die Durchfahrt des D 732 über mein einzig freies Gleis 3 abwarten musste. Um 14:08 hatte ich nach dem Vorblock aus Sülstorf und Vorausmeldung nach Schwerin die Durchfahrt für D 732 (Leipzig - Schwerin - Rostock) über Gleis 3 eingestellt. Ich trat ans Fenster, um die vorgeschriebene Zugbeobachtung zu machen, wobei sich Lokführer und Stellwerker auch immer grüßten. Plötzlich gab der Lokführer des D 732 in Höhe meines Stellwerks einen Dauerton Achtungssignal und leitet eine Schnellbremsung ein, dass an allen Rädern die Funken sprühten. Mein erster Gedanke "Oh Gott, Du hast die Schranke vergessen!", was einen nicht vorstellbaren Schreck für mich bedeutete und was niemand nachvollziehen, der so was nicht selbst erlebt hat. Denn Schrankenabhängigkeit, wie auch Zugfunk, PZB, Gleisfreimeldung usw. gab es nicht. Aber die Schranke war geschlossen. Doch ich sah im Gleis 3 in Höhe der Ausfahrsignale hinter dem Überweg am Bahnsteig 3 die beiden Sicherungsposten der Leute vom Bau gemütlich im Gleis in Richtung Schwerin spazieren. Durch den Lärm der Baumaschinen hörten sie auch nichts, auch nicht den Dauerton des Achtungssignals, das der Lokführer des D 732 gab. In Höhe Mitte des Bahnsteiges 3 erfasste der D732 einen der Bauarbeiter, der andere konnte in letzter Sekunde beiseite springen, und schleifte bzw. verteilte ihn auf 300 m, bis er dann in Höhe Ausfahrsignal M zum Halten kam. Ich musste das alles mitansehen. Noch schlimmer war, dass meine junge Stellwerkswärterin auf Stellwerk W2 in Erwartung des D 732 an das Fenster zur Zugbeobachtung getreten war und direkt von vorn alles mit ansehen musste. Sie konnte auch kaum am Telefon sprechen, als sie mich sofort anrief, ebenso wie der Lokführer, der mich vom Fo-Fernsprecher am Ausfahrsig M anrief. Ich habe sofort alles gesperrt und alle Verantwortlichen nach Unfallmeldeplan angerufen. Aber so was dauerte trotz eingerichteter Bereitschaften doch eine Weile. Als Erste erschien die auch noch recht junge Leiterin des Bahnhof und übernahm die Leitung an der Unfallstelle bis die weiteren Einsatz- und Rettungskräfte eintrafen. Ich habe diese Leute nicht um ihre Arbeit beneidet. Einen über 300 m verteilten Menschen anzusehen und einzusammeln, ist nicht schön. Ich musste ein paar Jahre später in leitender Tätigkeit selbst 2 solche Fälle ansehen und untersuchen. Das ist wirklich nicht schön. Es war nun der gesamte Bahnhof gesperrt und nichts ging mehr. Es kam zum Rückstau der Züge aus allen Richtungen mit hohen Verspätungen. Die junge Stellwerkswärterin wurde abgelöst und betreut. Der Lokführer des D 732 wollte weiterfahren und fuhr später auch weiter. Heute ist das nicht mehr erlaubt. Es muss abgelöst werden. Um 17:20 bekam ich endlich die erlösende Nachricht, dass die Unfalluntersuchung vor Ort abgeschlossen, die Unfallstelle beräumt ist und ich die Sperrung aufheben kann. in Abstimmung mit den Dispatcherleitungen Wittenberge und Güstrow nahm ich den Zugverkehr dann wieder auf. Als um 17:45 meine Ablösung kam, war auch ich so was von fix und fertig, dass ich zunächst die Gaststätte im Dorf aufsuchte, um bei ein paar Biere Abstand zu gewinnen und zur Ruhe zu kommen. Reden wollte ich mit niemandem. Zum Glück musste ich am Montag auch erst zum Spätdienst von 14:00 bis 22:00.


    Holthusen-19820221.jpg


    Wie kam es zu dem Unfall? Beide Sicherungsposten hatten im Gleis 3 nichts zu suchen, weil sie die Leute vom Bau in den Gleisen 1 und 2 absichern sollten. Und als sie dennoch im Gleis 3 liefen, hätten sie den am Asig Q stehenden Ce 46871 sehen müssen und sich fragen müssen, warum ich diesen Zug dort halten lasse und noch keine Einfahrt gegeben habe. Und dann hätte nur ein Blick etwas nach oben gereicht, um zu sehen, dass das Ausfahrsig M inzwischen grün zeigte. Das war ein sehr tragisches Ereignis. Den tödlich verunglückten Sicherungsposten kannte ich persönlich und war auch zu seiner Beisetzung. Der überlebende Sicherungsposten stand noch lange unter Schock und konnte am Unfalltag nicht befragt werden. Und meine junge Stellwerkswärterin durfte einige Tage frei machen und war bei ihrer Familie.


    Solche Ereignisse vergisst man sein ganzes Leben nicht.


    Viele Grüße


    Norbert

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